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Beim Klimagipfel im Dezember 2019 in Madrid warb EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen für einen Green Deal. Demnach soll Europa bis 2050 als erster Kontinent klimaneutral werden. Nicht weniger ambitioniert ist das Ziel, bis 2030 die Treibhausemissionen in Europa massiv zu senken, und zwar um mindestens 50 % im Vergleich zu 1990. Welchen Stellenwert hat der fossile Brennstoff Gas in diesem Szenario? Oder andersherum: Wie soll das Heizen ohne Gas und Öl in Deutschland funktionieren?

Mit diesen Zukunftsfragen haben wir uns an Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner gewandt. Er sollte es wissen: Schließlich beschäftigt er sich am House of Energy, der Denkfabrik der hessischen Energiewende, schwerpunktmäßig mit der Umstellung der Energiewirtschaft auf regenerative Energien und allem, was damit zusammenhängt.

Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner, House of Energy

Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner

Honorarprofessor der Fakultät für Elektro-, Informations- und Medientechnik der Bergischen Universität Wuppertal

eam magazin: Deutschland hat sich bei der Energiewende ehrgeizige Ziele gesetzt. Wie beurteilen Sie deren Umsetzung?

Dr. Birkner: In Deutschland liegen wir aktuell bei einem Anteil von etwa 40 % an erneuerbaren Energien im Stromsektor und einem Anteil von etwa 15 % bei den Primärenergieträgern. D.h. aber auch, dass 85 % unserer genutzten Primärenergieträger Öl, Gas, Kohle und Uran sind. Diese Zahlen zeigen, dass noch gewaltige Anstrengungen erforderlich sind, um das Ziel eines klimaneutralen Kontinents, wie es der Green Deal der EU-Kommissionspräsidentin bis 2050 plant, zu erreichen.

Der Umbau der Energieinfrastruktur muss beschleunigt werden. Die wesentlichen Technologien hierfür sind vorhanden, müssen aber in einigen Bereichen noch weiterentwickelt werden. Dafür sind enorme Investitionen erforderlich. Diese setzen stabile wirtschaftliche Rahmenbedingungen voraus.  Ein wichtiger methodischer Ansatz ist die umfassende Bepreisung von Kohlendioxidemissionen. Die Zeit drängt, da sich das Klima schneller als angenommen verändert. Aus diesem Grund geht es nicht nur darum das Zielsystem im Blick zu haben, sondern auch in Übergangsszenarien zu denken, die eine schnelle, effiziente, effektive und wirtschaftlich darstellbare Reduktion der Treibhausgase ermöglichen. Damit wird Zeit für den komplexen Komplettumbau des Energiesystems gewonnen, ohne das Klimaziel und die Kosten aus den Augen zu verlieren.

Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner, House of Energy

Prof. Dr.-Ing. Peter Birkner

Honorarprofessor der Fakultät für Elektro-, Informations- und Medientechnik der Bergischen Universität Wuppertal

Erdgas Brückentechnologie

Welchen Beitrag kann der Energieträger Erdgas leisten, damit Deutschland seine Klimaziele erreicht?

Die spezifischen Kohlendioxidemissionen von Erdgas sind deutlich niedriger als die von Kohle oder Öl. Erdgas hat damit zweifelsfrei das Potential für einen Brückenenergieträger. Es sollte der fossile Energieträger sein, der zuletzt zurückgenommen wird. Erdgas hat noch einen weiteren Vorteil. Es kann mit aufbereitetem Biomethan und mit Wasserstoff gemischt werden. Dadurch können die spezifischen Kohlendioxidemissionen verringert und bildlich gesprochen kann die Brücke dadurch verlängert werden. Zu berücksichtigen ist jedoch auch, dass Erdgas aktuell mit etwas über 20 % zu den Treibhausgasemissionen in Deutschland beiträgt. Es kann daher keine langfristige Lösung darstellen.

 

Welche Bedeutung wird Erdgas im Jahr 2030 haben?

Prognosen sind immer schwierig, dennoch würde ich annehmen, dass in Deutschland im Jahre 2030 eine im Vergleich zu heute leicht reduzierte fossile Erdgasmenge verbraucht wird. Gleichzeitig wird im Gasnetz jedoch ein nennenswerter klimaneutralem Wasserstoffanteil zwischen 10 % und 20 % (Volumenprozent) vorhanden sein. Im Neubau- und Sanierungsbereich dürften Wärmepumpen dominieren, aber es wird immer noch einen signifikanten Anteil an Gebäuden geben, die eine höhere Vorlauftemperatur für die Heizung benötigen und damit mit modernen Gasthermen arbeiten werden. Letztere dürften schwerpunktmäßig im urbanen Raum liegen. Fernwärme wird damit eine weitere Lösungsoption bleiben.

Nach 2030 wird sich die Bedeutung von Erdgas verringern und der von Wasserstoff steigen. Die heutigen Gasnetze werden dann nur noch teilweise genutzt werden und eine Umrüstung von Erdgas- auf reine Wasserstoffnetze wird erfolgen. Aber nochmals, Überraschungen sind hier nicht ausgeschlossen, da die Technik ständig neue Optionen bietet.

Erdgas, Fernwärme, Wärmepumpe

Wenn ich nun als Verbraucher vor der Entscheidung stehe, meine alte Ölheizung auszuwechseln – welche Alternative(n) würden Sie empfehlen?

Wenn es möglich ist, würde ich auf eine Wärmepumpe oder – falls verfügbar – auch auf einen Fernwärmeanschluss umsteigen. Ich hätte aber auch keine Bedenken, eine moderne Gastherme einzubauen. Die oben skizzierte Übergangszeit bietet ausreichend Raum für eine Amortisation der Investition, vor allem, wenn wir künftig mit Methan-Wasserstoff-Gemischen arbeiten. 

Allerdings müssen sich nach meiner Einschätzung die Gasnetzbetreiber kurzfristig Gedanken über die Weiterentwicklung ihrer Infrastruktur machen: An welcher Stelle wird das Netz zurückgebaut, und an welcher Stelle wird es um- oder ausgebaut, um später Bestandteil einer entstehenden Wasserstoffwirtschaft zu werden? Jede heute getätigte Investition hat eine Lebensdauer im Bereich von 50 Jahren und wirkt damit über das Jahr 2050 hinaus. Das Risko von Fehlinvestitionen steigt damit deutlich.